Wir waren in Minsk, der weissrussischen Hauptstadt. 2 Tage lang. Die Berliner Innenstadt ist von der Minsker Innenstadt 5 Stunden entfernt. Nach Athen ist es weiter und dauert länger. Trotzdem ist Minsk für mich eine Reise in eine andere Welt gewesen. Wir brauchten ein Visa für die Einreise. Damit ein Visa ausgestellt wird, wird eine Einladung aus Weissrussland benötigt. Das ist das ganz normale Gegenseitigkeitsgeschäft. Weissrussen benötigen sowas auch, wenn sie nach Deutschland kommen wollen. Ob das Sinn macht? Vermutlich nicht. Denn ohne Arbeitserlaubnis ist die Einreise so gut wie wertlos.
Das Visa für 3 Tage hat uns 120 Euro gekostet – pro Nase. Okay, hätte auch billiger sein können, wenn es kein Express-Visa gewesen wäre. Dann sind nur 60 Euro Eintritt für die 3 Tage fällig. Und da war der Visabearbeiter in der Botschaft schon sehr humorlos. »Express-Visa?« fragte er. »Geht es denn auch billiger?« meine Rückfrage. »Ja, für 60 Euro. Dann dauert es mit der Bearbeitung aber eine Woche. Sie haben ihr Visa dann am 24.« »Dann sind wir ja schon zurück. Hätten aber gar nicht hinfliegen können. Weil wir ja kein Visa haben.« »Ja.« Kafkaesk?

Giebelfiguren am Palast der Gewerkschaften

Petunien am Palast der Republik

Laternen am Palast der Republik
Wir sind dann am Dienstag in Minsk angekommen. Der Flughafen Minsk-2 ist… übersichtlich. Sieht zwar gewaltig aus, aber mit den 3-4 Maschinen am Tag wird er fertig Wir wurden mit einem Bus vom Vorfeld abgeholt. Und dann kam die Passkontrolle. Reisst man innerhalb der EU als EU-Bürger sind Passkontrollen ja eher wie eine Fliege auf der Haut. Man spürt sie, nimmt sie aber nicht mehr so recht war. Auch in die Schweiz ist die Passkontrolle eher ein pro forma Akt. In Minsk ist das noch eine ernste Angelegenheit. Und dauert dementsprechend lange. 3-5 Minuten pro Kontrolle. Vor uns ca. 25 Personen. Kurz bevor wir an der Reihe waren, wussten wir auch, warum viele andere Passagiere unserer Maschine nicht gleich zur Passkontrolle, sondern zur Visa-Stelle gelaufen sind. Dort gibt es die obligatorische weissrussische Krankenversicherung, die jeder Einreisende erwerben muss. 50 Eurocent pro Tag. Der Einfachheit halber auf 2 Euro gerundet. Diskutieren – bei 120 Euro Eintritt? Machen wir uns nicht lächerlich. Nachdem auch dies erledigt war, wieder in die Warteschlange. Und nach einer weiteren gefühlten Stunde war es dann geschafft. Einen Vorteil hat die längere Wartezeit: das Gepäck wartet bereits auf dem Laufband. Durch die Passkontrolle bedeutet, jetzt geht es weiter, durch die Gepäckkontrolle. Da wir die Letzten waren ging es diesmal schnell.
Wir sind abgeholt worden. Auf der Autoban M2 geht es in die Stadt. Die Autobahn ist beleuchtet, der Mittelstreifen sehr breit und einfach nur eine grüne Wiese. Sie macht schon was her, die Autobahn. Immerhin ist es die Protokollstrecke. Daneben hat überrascht, dass es in Weissrussland Bushaltestellen an der Autobahn gibt.
Beeindruckend dann natürlich die Nationalbibliothek. Ein echtes architektonisches Highlight. Der riesige blaue Rhombenkuboktaeder überragt die Gegend und zieht alle Blicke auf sich.
Die Bauten wurden dann zwar nicht spektakulärer aber sie sind gross. Minsk ist eine recht junge Grossstadt. Sie wurde erst unter den Sowjets zu dem, was sie jetzt ist. Dementsprechend sind die Bauten. Die repräsentativen Bauten sind aus unserer Sicht kitschig und wuchtig. Ihr könnt euch ja anhand der Bilder selbst ein Bild davon machen. Der Palast der Gewerkschaften als nachempfundener römischer Tempel mit Motiven aus der Arbeiter- und Bauernklasse, dass ist klassizistischer Kitsch pur.
Auffällig sind auch die vielen Fahnen in den Nationalfarben rot und grün. An den Strassenlaternen, in eigens dafür aufgestellten Ständern. Am Donnerstag auf der Rückfahrt dann noch ein Verstärkerwagen, der auf dem Siegesplatz Militärmusik spielte. Ein Bild wie aus einem alten Hollywoodschinken, als die Sowjetunion noch das Reich des Bösen war.
Weissrussland ist die letzte lupenreine Diktatur Europas. Allerdings empfinden die Weissrussen dies nicht so. Sie kennen es nicht anders. Dies hat mir einer der Mitreisenden, der alle zwei bis drei Wochen in Weissrussland ist, im Flugzeug erzählt. Die 2, 3 Jahre relativer Freiheit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben nicht gereicht ein starkes Freiheitsempfinden aufzubauen. Lukaschenkos Macht basiert auf KGB und Bürokratie. Wie das mit der Bürokratie funktioniert, hat uns einer unserer Gastgeber anhand von Restaurants erklärt:
An jedem Morgen müssen der Restaurantbesitzer und sein Buchhalter die Preise der Gerichte für den Tag abzeichnen. Auf 10 Rubel genau - weniger als 1 Eurocent. Der Restaurantbesitzer haftet a) für den Preis und b) dafür, dass er das Gericht den ganzen Tag liefern kann. Das heisst, ich komme kurz vor Ende der Öffnungszeit in das Restaurant und will ein bestimmtes Gericht, muss er es mir servieren. Kann er das nicht, kann ich ihn anzeigen. Und seine Lizenz ist in Gefahr. Penalty nannte das unser Gastgeber.
Das ist ja noch nicht sonderlich spektakulär. Der Restaurantbesitzer und sein Buchhalter müssen auf der Karte aber auch exakt die Menge jedes Bestandteils der Speise beschreiben. Also 40 Gramm Kartoffeln, 30 Gramm Scheinefleisch aus dem Nacken. 15 Gramm Tomaten und so weiter. Wiege ich die Zutaten ab und es sind nur 38 Gramm Kartoffeln auf dem Teller — Penalty.
Ganz bizarr wird es dann bei der Festlegung des Preises. Der Restaurantbesitzer – und sein Buchhalter – müssen Buch über den Einkaufspreis führen. Soweit so gut. Dann muss für jede Zutat eines Gerichtes gemessen werden wie gross der Gewichtsverlust beim Kochen ist. Damit das Gewicht für die Zutat auf die Karte kann. Den Einkaufspreis aller Zutaten muss er dann addieren. Und je nach Kategorie des Restaurants darf der Restaurantbesitzer – und sein Buchhalter – dann einen Prozentsatz (z.B. 15%) aufschlagen. Die Kategorie des Restaurants ergibt sich aus der Lizenz und muss dem Gast bekannt gegeben werden. Gibt es in irgendeinem Schritt diese bürokratischen Monsters ein Problem — Penalty. Und irgend einen Fehler machst du immer. Es hängt dann vom Goodwill und deiner Vernetzung ab, wie der Penalty ausgeht.
Geld verdienen mit Restaurants ist also schwierig. Wie kann man trotzdem davon leben? Kick-back Geschäfte ist der Trick. Der Restaurantbesitzer kauft teurer, z.B. beim Produzenten, ein. Der Verkäufer zahlt ihm dann unter der Hand einen Teil des Verkaufspreises zurück. Geld findet seinen Weg
Unser Gastgeber erklärte uns dan noch, dass alle Geschäfte in Weissrussland einer solchen Bürokratie unterliegen. Ausgenommen ist nur die Software-Industrie. Weil man Software nicht messen kann. Und diese Art der Bürokratie hat auch einen Vorteil: der grosse Nachbar aus Russland mit seinen Dollarmilliarden hat keinen Bock auf diese Bürokratie. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass die anderen Russen(?) nicht wirklich gemocht werden.
Minsk ist eine sehr saubere Stadt. Als ich am Mittwoch Abend und Donnerstag früh durch die Stadt gelaufen bin, habe ich nur eine herunter gefallene und zersprungene Flasche gesehen. Und eine leere Packung Zigaretten. Fast jeder Weissrusse scheint zwar zu rauchen. Kippen liegen aber nicht herum. Nur vor einem Laden in der Komsomolskaja, der aussah wie ein Wettbüro. Es gibt auch kaum Graffiti. Höchstens mal ein paar Tags oder Andreij liebt Tatjana
. Ich vermute einmal, dass es nicht so ist, weil die Bevölkerung so reinlich ist, sondern aus Angst vor Strafe. Aber es ist nicht alles Gold was glänzt. Zwar ist die Hauptstraße und von dieser abgehenden Seitenstraßen tiptop in Ordnung. Sobald wir aber zu unseren Gastgebern gefahren sind, änderte sich das Bild. Die Strassen wurden rapide schlechter. Unser Fahrer und die Taxifahrer machten erstaunliche Schlenker. Trotzdem nahmen wir das eine und andere Schlagloch mit. Auch die Häuser abseits vom Zentrum sind nicht mehr so sauber und schön. Potjomkin lässt grüssen. Der Besucher darf sich nicht täuschen lassen durch die ersten schönen Bilder und Werbung, fast ausschliesslich für westliche Produkte: Weissrussland ist ein armes Land. Der Stopp der Gaslieferungen aus Russland gerade zu diesem Zeitpunkt war Tagesgespräch. Auch die eine oder andere sarkastische Bemerkung gegenüber der Junta gab es. Ob es stimmt weiss ich nicht: angeblich wurde der weissrussiches Mobilfunkprovider Velcom verkauft, weil mal wieder eine Gasrechnung offen war.

Denkmal für Jazeps Drozdovich

Kathedrale des Heiligen Geist

Regenrinne an Kathedrale des Heiligen Geist
Es gibt noch viel zu schreiben. Trotzdem die letzten Dinge nur stichwortweise.
- Nur weil Minsk-2 ein internationaler Flughafen ist, heisst die noch lange nicht, dass englisch gesprochen wird. Oder der Zielflughafen deutlich auch in lateinischer Schrift geschrieben wird. Zweisprachige Durchsagen? Hallo, wir sind in Weissrussland. Die Junta möchte eigentlich gar keine ausländischen Besucher. Warum es diesen also leicht machen.
- Das KGB Gebäude zu fotografieren ist kein Problem. Schaut euch aber mal die Bilder des Präsidentensitzes auf Google Maps an. Wirken irgendwie wie selbst zensiert, Schere im Kopf.
- An allen Häuserfassaden gibt es Lampen, die die Fassade Nachts beleuchten. Kein Gas, um zu heizen. Strom scheint kein Problem zu sein. Und Denkmalschutz auch nicht.
- Ronny hat es mir schon mal über Taiwan erzählt, hier konnte ich es selbst sehen. Die neueren Ampeln haben ein Countdown. Bei Ampeln für Autos dort wo auch Gelb ist. Bei Fussgängerampeln in der gerade nicht stattfindenden Phase. Der Countdown zeigt an, wie lange die aktuelle Phase noch dauert. Ich finde die Idee so überzeugend, dass so was auch hier eingeführt werden soll. Wird es vermutlich auch. In 15-25 Jahren. Hat aber einen Nachteil: die 2 Segmentanzeige erlaubt maximal 99 Sekunden Phase. Das kann bei vielen Berliner Ampeln schon mal knapp werden
Mehr Minsk
Entwickeln der Bilder (32 von 300+): ca. 3 Stunden
Slide Show (wenn ihr auf die Bilder klickt: 1 Stunde
Geotagging: ca. 3,5 Stunden
Schreiben: 3 Stunden (mit Notizen in Minsk)
Summe: Mehr als ein Arbeitstag. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Zeit so ein Eintrag fressen kann.
Vielen Dank für das Kompliment, Willy. Wir waren wegen des Jobs in Minsk. Dort haben wir eine Entwicklergruppe sitzen. Und deren Leitung übernehme ich jetzt. Es ist immer gut sich zwischendurch mal Auge in Auge gegenüber zu sitzen.